Die SPD
Russland-Manifest: Der Streit in der SPD eskaliert
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Der rote Chefökonom

08.06.2025 Weiter lesen und alle Grafiken schauen Hier können Sie das The Pioneer Briefing abonnieren. Jetzt anmelden |
Di SPD hat Brandt verraten

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Auf Linkskurs
Auf dem Parteitag im Juni wählen die Genossen eine neue Führung. Die Kandidaten bekennen sich zu einem klaren Sozialprofil. Der Linksdrall könnte die Regierungsarbeit gefährden – und der SPD einen Bärendienst erweisen. Sonntag, 19 Uhr. Die Sendung Bericht aus Berlin läuft bereits seit 19 Minuten, als Saskia Esken das Studio betritt. In einem chaotisch orchestrierten Interview kündigt sie ihren Rückzug aus der Parteiführung an. Nach nur wenigen Fragen ist Eskens Auftritt wieder vorbei. Eskens Abschied kam nicht unerwartet – und doch entstand im Willy-Brandt-Haus hektische Betriebsamkeit. Am Montagmorgen trifft sich der SPD-Vorstand, gleichzeitig folgt eine kurzfristige Einladung an die Journalisten. Ein neues Trio soll ran: Bärbel Bas wird neue Co-Chefin an Klingbeils Seite, Tim Klüssendorf Generalsekretär und Matthias Miersch Fraktionsvorsitzender. Was sie eint: die Zugehörigkeit zur Parlamentarischen Linken (PL). Die Botschaft aus der Zentrale ist eindeutig: Die SPD geht auf Linkskurs – und möglicherweise auf Kollisionskurs mit der schwarz-roten Regierung. |

Einen Vorgeschmack lieferten in der jüngeren Vergangenheit alle drei: Arbeitsministerin Bas will Beamte in die Rentensysteme holen. Das sagte sie vor wenigen Tagen, obwohl der Koalitionsvertrag genau das ausschließt. Miersch will sich notfalls über die Mindestlohnkommission hinwegsetzen und einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 15 Euro einführen. Ein Affront für die Konservativen. Klüssendorf hatte Verschärfungen in der Migrationspolitik und beim Bürgergeld als „soziale und integrationspolitische Rückschritte“ deklariert. Dabei war genau das verabredet. Obwohl die SPD sieben Minister und viele weitere Regierungsmitglieder stellt, sucht sie händeringend nach einer neuen Strategie, die sie als eine Opposition innerhalb der Regierung profiliert. Im Juni findet der vorgezogene Parteitag statt. Dort soll auch über die neue Programmatik der Partei gesprochen werden. Zimperlich miteinander sind sie nicht. Mit 16,4 Prozent habe die SPD den „Tiefpunkt der Sozialdemokratie“ erreicht, formulierte es die SPD in NRW kürzlich in einem Positionspapier. Klingbeil und sein Team müssten die Partei zu neuer Glaubwürdigkeit führen. Die NRW-Genossen machen Druck – und nicht nur die Schatzmeister Dietmar Nietan stellte in der Vorstandssitzung am Montagmorgen ein Papier vor, das es in sich hat. Man müsse davon ausgehen, dass die Partei in zehn Jahren nur noch halb so viele Parteimitglieder haben werde, heißt es. Die SPD sei eine Partei der Alten. Rettung ist möglich: Aber dafür bräuchte die SPD eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Eintritten über viele Jahre hinweg. Sonst drohe ein massiver finanzieller Verlust. Einen Großteil der Einnahmen erzielt die Partei über die Mitgliedsbeiträge. Nur wie soll das gehen? Nietan forderte „deutlich bessere Wahlergebnisse“ und tausende neue Mitglieder – sonst „werden ab den 30er Jahren nicht nur die Bundespartei, sondern auch ein Landesverband und Bezirk nach dem anderen strukturell unterfinanziert sein“, heißt es in dem Papier. Ein Konzept ist das noch nicht. Mindestens so dramatisch formuliert es ein 14-seitiger Bericht der SPD-Kommission zur Aufarbeitung des Wahlergebnisses. Es ist ein erster Schritt für die programmatische Neuausrichtung. Darin heißt es: „Die SPD bedarf einer umfassenden Erneuerung.“ Die SPD wirke getrieben und habe keine klare Vorstellung von ihrer eigenen Zukunft. Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey hat schon mal eine Idee. Sie sagt uns: „Ich sehe die SPD auch als soziales Korrektiv in dieser Bundesregierung. Das ist unsere Rolle und das muss die inhaltliche Ausrichtung der SPD sein.“ Im September finden in NRW die Kommunalwahlen statt. In manchen Städten wie Gelsenkirchen droht die AfD das Zepter zu übernehmen. Es wäre die erste westdeutsche Stadt mit einem AfD-Bürgermeister – ein Flimmern in der Herzkammer der Sozialdemokratie. Im Vorfeld des Landesparteitages im Mai kritisierten die Parteichefs Sarah Philipp und Achim Post in einem Kapitel ihres Positionspapiers die Bundespartei. Als das Papier medial die Runde machte, sah sich Klingbeil kurzerhand gezwungen, nach Duisburg zum Landesparteitag zu reisen. Mit ihm werde es keine „Kehrtwende in der Programmatik“ geben, werde die SPD nicht „mehr nach links“ rücken, versprach Klingbeil auf der Bühne. Stattdessen wolle er für „die Mitte der Gesellschaft“ werben, Menschen, die „fleißig sind, die arbeiten gehen“. Also die bisherige Kernklientel der SPD. Aber kann Klingbeil dieses Versprechen einhalten? Die Neuen Die Besetzung der Spitzenpositionen lässt daran zweifeln. Zwar müssen Bärbel Bas und Tim Klüssendorf im Juni noch offiziell ins Amt gewählt werden, aber das gilt als sicher. Spannend wird vor allem, mit welchem Ergebnis die beiden und Klingbeil von den Delegierten gewählt werden. Der Bas-Vorteil: Die Duisburgerin ist sehr beliebt in ihrer Partei. Sie hat sich in ihrer Zeit als Bundestagspräsidentin über die SPD-Reihen hinweg einen Namen gemacht. Die Genossen trauen ihr zu, die Partei wieder zum Erfolg führen zu können. Sie hat das, was der Partei fehlt: Glaubwürdigkeit. Das liegt auch an ihrer Vita, die sozialdemokratischer nicht sein könnte. Im Ruhrgebiet wächst sie in einfachen Verhältnissen auf. Ihr Vater ist Busfahrer, ihre Mutter Hausfrau. Das Geld ist knapp und reicht nicht immer für Klassenfahrten, wie sie in einem Interview erzählt. Mit einem Hauptschulabschluss absolviert sie eine Ausbildung zur Bürogehilfin. Sie arbeitet sich über Fortbildungen nach oben und kommt schließlich über die Betriebsratsarbeit in die Politik. Seit 2009 gehört sie dem Bundestag an. Ihr Mandat konnte sie in diesem Jahr wieder verteidigen. Mit 39 Prozent der Erststimmen darf sie im Bundestag bleiben. Bei den Koalitionsverhandlungen sitzt sie mit am Tisch und kann das wichtigste Ministerium für die Sozialdemokraten sichern: das Arbeitsministerium. Nach nur wenigen Tagen im Amt zettelt Bas direkt eine Debatte an. Ihr Vorschlag: Künftig sollen auch Beamte, Bundestagsabgeordnete und Selbstständige in die Rentenkasse einzahlen. Die CDU und der Beamtenbund sind auf der Zinne, dieser Vorschlag sei nicht umsetzbar. Im Koalitionsvertrag steht dazu nichts. Egal. Der Ton ist gesetzt. Für Bas und Klingbeil spielt vor allem Tim Klüssendorf, der designierte Generalsekretär, eine zentrale Rolle. Er ist 33 Jahre jung und soll dafür sorgen müssen, dass auch junge Wählerinnen und Wähler wieder mit ins Boot geholt werden. Klüssendorf ist Sprecher der Parlamentarischen Linken – ein Posten, den er, wie zuvor Miersch, wegen seiner Beförderung zum Generalsekretär aufgeben muss. Der Politiker aus Schleswig-Holstein hat sich schnell nach oben gearbeitet und vor allem Themen in der Steuer- und Finanzpolitik vorangetrieben. „Wir müssen uns dringend um die exorbitant hohe Vermögenskonzentration in Deutschland kümmern“, sagte er The Pioneer im vergangenen Jahr. Damit meint er die Erbschaftsteuer. Mit einer Reform würde er „steuerpolitische Solidarität und wirtschaftspolitische Umsetzbarkeit“ miteinander verbinden. |

Die Umsetzbarkeit in einer Koalition mit der Union liegt in etwa bei null. Aber Regierungsarbeit wird nicht Klüssendorfs Aufgabengebiet sein, sondern das Vorantreiben sozialdemokratischer Themen. Und das tut er – und zwar links der Regierung. Allerdings stellt sich die Frage, ob Klüssendorf mit seinem finanzpolitischen Schwerpunkt die richtigen Akzente setzt. Denn aktuell sind es vor allem die Wirtschaft und die Förderung von Industriearbeitsplätzen, die im Mittelpunkt sozialdemokratischer Politik stehen sollten. Als Klüssendorf nach der Europawahl mit Olaf Scholz aneinandergeriet, sagte er später über sich selbst: „Ich bin ein starker Vertreter linker Positionen – aber sehe mich nicht als Gegenspieler von Olaf Scholz.“ Der neue Kevin Kühnert sei er dennoch nicht, sagt Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. „Ich traue ihm die Kühnert-Rolle nicht zu.“ Die sei auch ziemlich einzigartig gewesen. Kühnert zählte schon damals zu den bekanntesten Gesichtern der SPD und war innerhalb der Partei so mächtig, dass er 2017 sogar kurz davor stand, durch das Mitgliedervotum und die #NoGroKo-Kampagne die Merkel-Ära zu beenden. Klüssendorf sei zudem noch zu jung, um die „neue Speerspitze der Partei“ zu sein, sagt von Lucke. Und dennoch wird Klüssendorf womöglich mehr Macht besitzen als seine Vorgänger. Da sowohl Klingbeil als auch Bas im Kabinett vertreten sind, werden sie zwangsläufig nicht die Zeit haben, Partei- und Kabinettsarbeit gleichermaßen intensiv zu betreiben. Klüssendorf, der gerne Helmut Schmidt zitiert („Politik ist ein Kampfsport“), bekommt automatisch eine wichtige Rolle zugeschoben. „Die SPD muss natürlich höllisch aufpassen, dass sie nicht als bloßes Beiboot der Union in der Koalition erscheint. Das ist doch die Sorge der SPD“, sagt von Lucke. Sprich: Angriffe aus dem Willy-Brandt-Haus sind programmiert. Überraschungssieger: Linke im Glück Kühnert und Klüssendorf – zwei linke Generalsekretäre. Beim Ersten ist der Versuch, junge Leute von der SPD zu überzeugen, gescheitert. Beim Zweiten steht es noch aus. Abschauen kann er sich was bei der Linkspartei. Mit mehr als 80.000 Parteimitgliedern haben sie während der Bundestagswahl einen Rekordwert erreicht. Im Jahr 2022 waren es noch knapp 55.000 Mitglieder. Die totgesagte Partei steigt während des Bundestagswahlkampfs wie ein Phönix aus der Asche auf. Am Ende waren selbst die eigenen Abgeordneten vom Sieg ihrer Partei überrascht: Mit 8,8 Prozent zog die Linkspartei in den Bundestag ein. Noch kurz vor der Wahl steckt die Partei in einer Identitätskrise – vor allem durch die Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht. Prominente Politiker wie Klaus Lederer, ehemaliger Berliner Kultursenator, kündigen ihre Parteimitgliedschaft. Im Wahlkampf fokussieren die Linken sich auf die Erzählung von sozialer Gerechtigkeit und bezahlbaren Wohnraum – eigentlich sozialdemokratische Themen. Die Linke hat all das, wovon die SPD gerade nur träumen kann: Eine gut funktionierende personelle Neuaufstellung, eine klare inhaltliche Ausrichtung und junge Wählerinnen und Wähler. Das Durchschnittsalter der neu eingetretenen Linken liegt bei 28 Jahren. Zudem ist die Partei die stärkste Kraft bei Erstwählern. Parteichef Jan van Aken sagt: „Die linke Zukunft sieht gut aus.“ Dazu beigetragen hat auch der Social-Media-Auftritt von Partei-Co-Chefin Heidi Reichinnek. Sie spricht die Internetsprache und kann deswegen authentisch bei Instagram und TikTok auftreten. Im Gegensatz zur SPD konnte die Linke das Merz-Debakel (Zusammenarbeit mit der AfD) richtig für sich nutzen. Sie positioniert sich als Gegenpol zur konservativen Politik der Union. Das wirkt überzeugend. Die Sozialdemokraten versuchten das auch – ohne Erfolg. In der Partei hat man sich sehr darüber geärgert, das Momentum nicht richtig genutzt zu haben. |

Wie wichtig die Linken für den politischen Betrieb geworden sind, zeigt Merz’ Scheitern bei der Kanzlerwahl. Sie haben noch am selben Tag einen zweiten Wahlgang ermöglicht. Dabei hat die Union mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss eine Zusammenarbeit immer ausgeschlossen. Ganz so eng sieht es die SPD nicht – ganz im Gegenteil. Selbst konservative Genossen wie der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Dirk Wiese sagt über die Linken: „Ich habe keine Berührungsängste“. Die Linke arbeite konstruktiv. Sein Amtskollege, Christian Görke, sei ein „sehr verbindlicher Kollege“, mit ihm könne er gut zusammenarbeiten. Für den Politologen von Lucke sind die Erfolge der Linkspartei alarmierende Zeichen für die Genossen. „Wenn eine Linke plötzlich da so reinknallen kann, dann muss die SPD aufwachen, sie muss realisieren, dass da ein Zug abzufahren droht, der dramatisch ist“, sagt er. Nur: Macht es für die SPD dann Sinn, noch linker zu werden, um den Linken Paroli zu bieten? Es könnte die Partei genauso gut zerreiben. Bitte mehr Pragmatismus Einen Linksdrall in der SPD begrüßen daher beileibe nicht alle in der SPD. Wahrscheinlich kennen die kritischen Stimmen auch die Statistiken von der Bundestagswahl. Da hat die SPD die meisten Wähler eben nicht an die Linken verloren, sondern an CDU und AfD. Strategisch müsste sich die Partei also wieder mehr Richtung Mitte bewegen. Das sieht auch Wirtschaftssenatorin Giffey so. Sie plädiert für „eine pragmatische lösungsorientierte Politik, die darauf zielt, den erarbeiteten Wohlstand und die innere und soziale Sicherheit in Deutschland zu erhalten“, sagt sie The Pioneer. Im Wesentlichen kommt es auf Klingbeil und Bas an. Die Parteiführung müsse einen Spagat schaffen, sagt Prof. Stefan Marschall, Politikwissenschaftler an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. „Auf der einen Seite ist das künftige Duo an die Kabinettsdisziplin gebunden, auf der anderen Seite müssen sie als Chefs das Profil ihrer Partei schärfen.“ Und damit sie sich von der Union absetzen können, müsse das „zwangsläufig linksgerichtet“ sein. |

Miersch wird wie Klüssendorf eine wichtige Rolle spielen. Er gilt als Klingbeil-Vertrauter – und stramm linker Politiker. 2017 forderte Miersch in einem Papier der Parlamentarischen Linken: „Wir brauchen eine Debatte über nachhaltige Wirtschaftsformen, nachhaltige Gesellschaftsformen und über die Beschränkung der Marktmacht bestimmter Unternehmen.“ Miersch ist der Kontrast zu Jens Spahn. Beide Fraktionsvorsitzenden haben nur wenige bis gar keine Gemeinsamkeiten. Für die Partei ist es aber wichtig, dass die beiden den „parlamentarischen Betrieb und Solidarität organisieren“, sagt Marschall. Miersch startet mit einer Hypothek ins Amt – lediglich knapp 83 Prozent der Stimmen entfielen auf ihn. Vorgänger Rolf Mützenich bekam 2021 rund 97 Prozent der Stimmen. Der jetzigen Fraktionschef-Wahl ist allerdings ein Machtkampf vorausgegangen. Hubertus Heil galt lange als Favorit für den Posten. Die Unterstützung der Genossen hatte er – und zwar flügelübergreifend. In der Partei heißt es, er habe die Kraft und das Charisma, die Fraktion selbstbewusst zu führen. Doch am Ende musste Heil zurückziehen. Offiziell verkündete er, er werde nicht für den Vorsitz kandidieren. Dafür fehle der Rückhalt der Parteispitze. Dass Klingbeil und Heil keine Freunde sind, ist in der SPD ein offenes Geheimnis. Deutlich wurde das dann auch noch mal in einer Sitzung des Parteivorstandes. Esken und Klingbeil verabschieden alle SPD-Minister, die es nicht noch mal ins Kabinett geschafft haben (also alle außer Pistorius). Am Ende werden Einzelfotos mit Minister und Parteichefs gemacht. Als Heil an der Reihe war, so berichten es Vorstandsmitglieder, wollte er sich dem Foto erst entziehen. Doch Klingbeil machte ihn aufmerksam, er sei nun an der Reihe. Mit einem lauten Seufzer, der selbst noch in der letzten Reihe zu hören war, stellt Heil sich neben Esken und Klingbeil und lässt das Foto über sich ergehen. Danach folgt eine Umarmung mit Esken und ein Handschlag mit Klingbeil, der nicht länger als zwei Sekunden gedauert haben soll. Mit Miersch hat SPD-Chef Klingbeil einen engen Vertrauten an die Spitze der Fraktion gehievt. Bis 2026 wird das Tandem einen neuen Sound der Sozialdemokratie gefunden haben müssen. Dann wird in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. Sollte die SPD im Süden unter zehn Prozent rutschen und in Rheinland-Pfalz nicht mehr die Regierung stellen, würde die SPD noch stärker als bisher über ihre Richtung debattieren: stärker in die Mitte – oder noch weiter nach links. Fazit: Die SPD steht in der Regierung und steckt in der Krise. Die neue Führung dürfte an einem Linksruck arbeiten. Er könnte die Genossen versöhnen – und den Koalitionsfrieden gefährden. |
Die AfD – eine Gefahr für unser Land?

die öffentlich zelebrierte Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ durch den Verfassungsschutz war die letzte und folgenreichste Entscheidung Nancy Faesers in ihrer Amtszeit. Am 2. Mai erklärte die damalige Innenministerin:![]() Die neue Bewertung des Bundesamts für Verfassungsschutz ist klar und eindeutig. Die AfD ist als gesichert rechtsextremistische Partei einzustufen. “ Kurz darauf legt dieselbe Ministerin nicht den Rückwärtsgang, aber den Leerlauf ein. Das Bundesamt für Verfassungsschutz setzte mit Billigung der Ministerin die Einstufung wieder aus – bis das Gerichtsverfahren zur Prüfung abgeschlossen ist. Das könnte Jahre dauern. An den Namen Nancy Faeser wird sich dann womöglich niemand mehr erinnern. An der Unabhängigkeit des Verfassungsschutzes gibt es seit jeher Zweifel. Waren es früher vor allem Linke und Liberale, die das Amt als politischen Geheimdienst kritisierten, kommt heute Kritik vor allem aus dem konservativen und rechten Lager. Mein Kollege Jan Schroeder hat recherchiert, wie der Inlandsnachrichtendienst arbeitet, wie Mitarbeiter und V-Leute spionieren, wer die Befunde interpretiert und am Ende das Urteil „gesichert rechtsextrem“ spricht. Dafür hat er mit Verfassungsschützern, ehemaligen Präsidenten des BfV, Kritikern, Juristen, Sicherheitsexperten, Mitgliedern des Parlamentarischen Kontrollgremiums und Innenpolitikern gesprochen. Entstanden ist ein Making-of des AfD-Gutachtens. Ein Must Read für kritische Geister. Prädikat: wertvoll. |
Die gefährliche Stigmatisierung der AFD
Wenn es das Ziel ist, die AfD stark zu machen, ihr ein Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen, um so eine rechtspopulistische Regierungsübernahme in 2029 vorzubereiten, dann hat das Bundesamt für Verfassungsschutz alles richtig gemacht. Wenn es aber darum geht, ein Klima der Verständigung zu schaffen, in dem die Migrationsfrage faktenbasiert besprochen und von der neuen Regierung im Rahmen des gesetzlich Erlaubten und des humanitär Gebotenen gelöst werden kann, dann haben die Verfassungsschützer alles falsch gemacht. |
Mit der öffentlichen Deklaration, ab jetzt seien Zweifel verboten und Deutschlands größte Oppositionspartei mit ihren knapp 450 Mandatsträgern auf Bundes-, Landes- und EU-Ebene und 10,3 Millionen Wählern bei der Bundestagswahl habe als „gesichert rechtsextremistisch“ zu gelten, wird der politische Antagonist im öffentlichen Diskurs de facto deaktiviert. Was Willy Brandt bei der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 1971 in Oslo sagte, soll nicht mehr gelten: Junge Menschen erwarten oft von mir das ungebrochene Ja, das deutliche Nein. Aber mir ist es unmöglich geworden, an eine einzige, an die Wahrheit zu glauben. Also sage ich meinen jungen Freunden und anderen, die es hören wollen: es gibt mehrere Wahrheiten, nicht nur die eine, alles andere ausschließende Wahrheit. Deshalb glaube ich an die Vielfalt und also an den Zweifel. “ Das Bundesamt für Verfassungsschutz – das noch der SPD-Innenministerin untersteht – planiert den Raum für Zweifel. Der Aktionsradius des neuen Kanzlers wird eingeengt. Das Gelände vor und hinter der Brandmauer ist von nun an – wie einst die innerdeutsche Grenze – vermint und mit Selbstschussanlagen versehen. Wer, wie der künftige Fraktionschef der Union, Jens Spahn, die AfD jetzt noch „wie jede andere Oppositionspartei im Bundestag“ behandelt sehen will, muss im Jagdrevier der Politik mit dem letalen Fangschuss rechnen. Der Demokratie kann der Staat so keinen Dienst erweisen. Warum dieses Vorgehen unsere demokratische Verfasstheit nicht schützt, sondern gefährdet, hat vier handfeste Gründe, die in der „Soziologie der Minderheiten“ weithin erforscht sind: 1. Intransparenz schafft Mythen Die Geheimhaltung ist die Geburtsstunde jeder Verschwörungstheorie. Folgerichtig soll auch die 1.100-seitige Studie des Verfassungsschutzes, die zu diesem Verdikt geführt hat, nicht veröffentlicht werden. Damit versucht man, das Urteil zu immunisieren. Wir sollen glauben, nicht wissen. Wir sollen folgen, nicht zweifeln. Die Wähler der AfD will man erkennbar nicht überzeugen, sondern stigmatisieren. So gesehen hat der Verfassungsschutz einen Volltreffer gelandet. 2. Verfolgung begründet Märtyrer-Status Die Haltung der AfD-Führung – gegen Einwanderung und Einbürgerung, für Ausgrenzung und Ausweisung – wird durch das Vorgehen einer staatlichen Behörde nicht gelockert, sondern gefestigt. Zumal der amerikanische Außenminister Marco Rubio der AfD beispringt: |
Dieser Märtyrer-Status nutzt der Partei, insbesondere bei der Akquise neuer Mitglieder und Wähler. Denn hier wird im Parteienwettbewerb ein Alleinstellungsmerkmal etabliert. Seht her: Der Wähler der AfD ist nicht Wähler, sondern Widerstandskämpfer. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die perfekte Markenkampagne für die AfD gestartet. 3. Dog Whistle Politics: Staat löst Framing-Effekte aus Staatliche Diskriminierungen von politischen Gruppierungen führen nicht zu deren Verschwinden, sondern zur Etablierung einer eigenen Sprache, die – wie die spezielle Hundepfeife – nur von einer bestimmten Spezies verstanden wird. Es wird wie bei der Dog Whistle auf einer eigenen Frequenz gesendet, die für andere kaum wahrnehmbar bleibt. Das Framing ändert sich, die Bedeutung lebt fort: Bernd Höcke, der gute Kontakte zur NPD hat*, bezeichnet sich nicht als nationalsozialistisch, sondern als sozialpatriotisch, fordert nicht Ausländer raus, sondern Remigration, spricht nicht von Rasse, sondern von Identität. Was früher als jüdisches Großkapital galt, nennt er jetzt Globalisierungselite. Er ist ein Rechtsextremist im Tarnanzug. 4. Identitätsstärkung durch Opferidentität Laut der Reaktanztheorie des Psychologen Jack Brehm von 1966 kommt es bei verfolgten Minderheiten nicht zur Aufgabe der Ziele, sondern zur Verstärkung der Anstrengung. Verbote und Verbotsdebatten führen in der Regel zu einer internen Radikalisierung („Wir sind die Letzten, die die Wahrheit kennen“) und verringern zugleich den Außenkontakt mit der liberalen Gesellschaft. Das bedeutet: Die Polarisierung nimmt nicht ab, sondern zu. Die verschiedenen Gesellschaftsteile stehen sich jetzt wie feindliche Heere gegenüber, brechen den Dialog ab und schließen das Visier. Der Staat hat sich zwischen sie gestellt – aber nicht als Moderator, sondern als Grenzpolizist, der die Demarkationslinie des Diskurses überwacht. Fazit: Die 61 Verfassungsväter und vier Verfassungsmütter des Parlamentarischen Rates haben die Hürde für ein Parteienverbot extrem hoch gelegt, weil sie ja wussten, dass die Versuchung groß ist, den politischen Wettbewerb einzuschränken. Carlo Schmid: Wir wollen eine Ordnung schaffen, in der das Recht über der Macht steht. “ |